by EMR
Wenn jemand rechts blinkt, hat er gefälligst auch rechts abzubiegen. Täglich lernen wir das Prinzip des konkludenten Handelns. Im Straßenverkehr mag das Sinn machen und kann sogar Leben retten. In vielen Punkten bildet dieses stringente Verhalten das Fundament einer funktionierenden sozialen Gemeinschaft. Einige Regeln und reglementierte Abläufe sind als durchaus sinnvoll zu betrachten. Tägliche Dinge und Handlungen laufen reibungslos und der Autopilot kann aus den Vollen schöpfen. Es passiert weniger unvorhergesehenes und wir müssen nicht weiter darüber nachdenken. Der Kopf ist frei für die schönen Dinge des Lebens.
Diese Verhaltensmuster übertragen wir allerdings nur allzu gerne auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Wir erwarten. Ständig. Bisweilen sogar hellseherische Fähigkeiten. Und setzen uns damit gegenseitig unter Druck.
Konventionelle Erwartungen = gesellschaftlich akzeptierte Gier?
Müssen wir tatsächlich alles reglementieren und zu Tode erwarten?
Du hast mich geküsst, also musst du mich jetzt gefälligst auch heiraten! Du hast eine Nacht mit mir verbracht, also baue mit mir ein Reihenhaus, stelle dich an den Grill (oder wahlweise Herd) und bekoche mich! Ich habe Geburtstag, also ruf nicht nur an sondern schenke mir gefälligst etwas!
Warum ziehen wir immer sofort die Daumenschrauben an, wenn unser Gegenüber bereit ist, uns etwas zu geben?
Wenn Familienbande nicht halten, sondern einschneiden
Ein Klassiker im Erwartungsverhalten ist in vielen Fällen unsere Mutter-Beziehung. Die Arbeit mit emotionaler Erpressung und diffusem Erwartungsdruck geht hier oft besonders leicht von der Hand. Weil diese Art der Kommunikation langfristig wie ein Gift wirkt, spricht man auch von “toxischen Beziehungen” oder “giftiger Kommunikation”. Ein Merkmal ist dabei, dass dauerhafte Widersprüche zwischen Worten und Taten bestehen, die zu einem schlechtem Gewissen und Unsicherheit im eigenen Verhalten führen. Ein weiteres ist, dass Probleme, Wünsche und Gefühle nicht offen ausgesprochen, sondern nur angedeutet werden. Dadurch bleiben sie unlösbar. Dazu eine kleine Anekdote:
Tochter ruft die Mutter an.
Mutter (mit leidender Stimme): „Ach, dass du dich auch mal wieder meldest…“
Tochter (ein wenig verzweifelt): „Wie geht’s dir?“
Mutter (breitet die ganze Krankheitsgeschichte aus): „Wie soll es mir schon gehen…?“
Tochter: „Es tut mir leid das zu hören. Ich wusste leider nicht…“
Mutter (unterbricht): „Ja, wie auch, wenn du dich nie meldest.“
… to be continued.
Geschichten dieser Art kennen wir wahrscheinlich alle in der ein oder anderen Form. Nach einem so gelagerten Gespräch kommt es wieder hoch. Das ungute Gefühl in der Magengegend oder sogar ein schlechtes Gewissen, wieder einmal versagt zu haben.
Analyse I: Was passiert da?
Verdeutlichen wir das aus der Sicht des erwartenden Parts einmal: Wir sind denkende Wesen. Daher gibt es tausende Optionen, was unser Gesprächspartner tun könnte, wenn er mit uns in Interaktion tritt. Wir erwarten genau eine davon. Die Stochastik sagt: Er kann nur versagen. Alles andere wäre in der Region eines Lottogewinns. Oft wollen wir das allerdings nicht wahrhaben und sind stattdessen enttäuscht, weil unser Gegenüber keine Gedanken lesen kann. Weil er einfach nicht ahnen konnte, was wir heute erwarten.
Gleichzeitig stoßen wir mit unserer offen zur Schau getragenen Enttäuschung jemanden vor den Kopf, der es gut mit uns meinte. So wird jede nette Geste fein säuberlich gleich im Keim erstickt.
Analyse II: Was wollen wir damit bezwecken?
Was tun wir da? Wir tun jemandem weh. Wir fügen jemandem Leid zu, indem wir ihm vermeintliche Fehler vorwerfen. Und warum machen wir das? - Vielleicht, weil wir wollen, dass derjenige mit uns leidet? Also Mit-Leid hat? Weil wir einen Schmerz nicht stillen können? Es ist verständlich, dass wir so einen Zustand ändern wollen, doch Vorwürfe sind nicht der beste Weg dahin. Erwartungen sind ein sicherer Weg zu Enttäuschungen, wenn sie nicht hin und wieder hinterfragt werden. Oft werden sie ökonomisch behandelt: Ich gebe X und erwarte dafür Y. Das funktioniert bei Gütern, aber im zwischenmenschlichen Bereich muss es zwangsläufig schief gehen. Denn die Gefühle, Gesten und Gedanken, die wir erwarten, können nicht wie Güter produziert werden. Sie entstehen als Reaktion auf unser eigenes Verhalten dem anderen gegenüber.
Gegengift I: Eigeninitiative
“Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.” sagte Kant. Im Prinzip ganz einfach, nicht wahr? Wie wäre es, wenn wir einfach selbst einmal zum Hörer greifen und anrufen, wenn wir jemanden hören wollen, anstatt das Telefon anzustarren und von Minute zu Minute schlechtere Laune zu bekommen, ohne dass der Gegenüber etwas davon weiß? Geben wir anderen doch einfach, was wir uns selbst wünschen. Dann werden andere auch gern etwas zurückgeben. Denn Dinge werden weniger, Gefühle und kleine Gesten mehr, wenn man sie teilt. - Die guten ebenso wie die schlechten.
Gegengift II: Den Moment genießen
Wir sollten das Glück wieder zulassen. Wäre es nicht viel schöner, uns glücklich zu schätzen, dass uns jemand seine Aufmerksamkeit schenkt? Ein Lächeln, eine Geste? Anstatt ihn dafür zu verhaften
und gleich in die nächste erwartete Handlung zu zwingen? Wäre die Welt nicht schöner, wenn wir einfach reagieren mit „Du hast mich geküsst und ich fand es schön. Ich danke dir für den Moment.“
oder „Danke, dass du an meinem Geburtstag an mich denkst und mich angerufen hast.“? Wenn wir uns von Erwartungen befreien, befreien wir die Schönheit des Momentes von der Last der Zukunftsangst.
Wir befreien unser Gegenüber vom Zwang sich selbst zu verbiegen, um uns zu gefallen. Wir befreien uns selbst von der Angst vor Enttäuschung. Und in all dieser Freiheit liegt die Magie von
Selbstentfaltung und Fantasie, die aller Kommunikation ihre aufrichtige Leichtigkeit schenkt.
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